König Faisal-Stiftung, Basel

23. Januar 2008

„Das Verhältnis von Religion und Staat im Islam“

 

Rifa’at Lenzin / 23.01.2008

 

 

Das Verhältnis von Religion und Staat im Islam

 

Nach Samuel Huntington und seinem „: Clash of Civilisation“ ist

 

§ Gott und Cäsar als Kirche und Staat = der prägende Dualismus der westlichen Kultur. 

§ China / Japan: Cäsar = Gott

§ Islam: Gott = Cäsar

§ Orthodoxie: Gott = Junior Partner von Cäsar

 

Huntington wiederholte damit einmal mehr die Vorwürfe, die im Westen stereotyp und pauschal stets repetiert werden und die lauten:

§ Keine Aufklärung

§ Keine Trennung von Kirche und Staat

§ Keine Säkularisierung

 

Es sind dies alles Schlagwörter, die einer genaueren Überprüfung bedürften. Dazu fehlt uns hier allerdings die Zeit. Deshalb nur soviel:

 

1.      Ausgangslage und Stossrichtung der Aufklärung sind unter die Lupe zu nehmen.

2.      Bei der Trennung von Kirche und Staat ging es eben nicht im die Trennung zwischen Religion und Staat, sondern eben um die Institution Kirche und darüber hinaus um die Einbettung der Religion in staatliche Ordnung. Dass dieses Verhältnis in Bezug auf den Islam, welcher keine dem christlichen Klerus entsprechende Institution kennt, anders aussieht und definiert werden muss, versteht sich von selbst.

3.      Säkularismus und Säkularisierung sind nicht identische Begriffe:

 

Säkularismus, Theorie und Praxis

 

In Säkularismus ist der Glaube verkörpert, dass menschliche Aktivitäten und Entscheidungen frei von religiöser Beeinflussung sein sollten. Wenn es also beispielsweise um die Frage geht, ob der Gebrauch von Kondomen zugelassen und gefördert werden soll, könnten dazu Argumente ins Feld geführt werden betreffend Aids-Prävention, Familienplanung oder aber auch biblisch-christliche. Aus säkularistischer Perspektive sind jedoch religiöse Argumente völlig irrelevant.

 

Säkularisierung ([1]) wird – im weiteren Sinne – verstanden als der institutionelle und mentale Prozess der Trennung von Kirche und Staat (bzw. religiöse Organisationen und Staat). Diesen Prozess charakterisiert Böckenförde als „Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung“.

 

Das ist die Theorie. Die Praxis sieht sehr viel vielfältiger aus, wenn wir schon nur einzelne Staaten in Europa anschauen. Das Verhältnis von Religion und Staat unterscheidet sich innerhalb Europas beträchtlich. In Frankreich z.B. wird eine völlige Trennung von religiöser Sphäre und staatlichem Handeln postuliert und eine strikte, distanzierte Säkularität betrieben, die jedes Religiöse ins rein Private verweist. In Grossbritannien hingegen ist die Anglikanische Kirche Staatskirche und die Königin ihr Oberhaupt. In Dänemark gibt es überhaupt keine Trennung von Kirche und Staat. Dort müssen alle, wenn sie heiraten oder die Geburt eines Kindes anmelden wollen, seien sie nun Christen, Juden oder Muslime, zum christlichen Pastor gehen, weil nur er die entsprechenden zivilrechtlichen Kompetenzen hat. In der Schweiz und auch in Deutschland hingegen wird ein „wohlwollender“ Säkularismus betrieben, der dem Religiösen auch öffentlichen Bereich einen gewissen Raum lässt.

 

Religion und Staat aus islamischer Sicht

 

Wie aber stellt sich das Verhältnis von Religion und Staat aus islamischer Sicht dar? Hauptpunkte des islamischen Diskurses waren seit jeher erstens das Prinzip der Einzigkeit Gottes (Tauhid), zweitens das Prinzip des freien Willens resp. die Frage der Gerechtigkeit und drittens die Frage nach dem „idealen muslimischen Herrscher “.

 

Wenn es ein Wort gibt, das für sich genommen für den ursprünglichen Impuls des Islam stehen kann, sei es in theologischer, politischer oder soziologischer Hinsicht, dann ist es taubid - ‘Einsmachen, einen, das Einssein, die Einzigkeit“. Obschon das Wort im Qur’an nicht vorkommt, ist die darin ausgedrückte Vorstellung implizit in der Glaubensformel „Es gibt keine Gottheit außer Gott“ enthalten, und die Hinweise auf den Gott ohne Partner oder Verbündete ziehen sich durch den gesamten heiligen Text. Aus islamischer Sicht ist es vor allem dieses Einzigsein, welches das Göttliche definiert. Diese Einheit spiegelt sich in seiner Schöpfung; d.h. diese Einheit ist reflektiert in der Harmonie und Balance ð alle Dinge sind miteinander in einem Gleichgewicht verknüpft. Ungerechtigkeit gefährdet und zerstört dieses Gleichgewicht.

Deshalb ist das Ziel der Gerechtigkeit.

Die Harmonie in der Beziehung

•     zwischen Gott und Mensch

•     zwischen Menschen im Allgemeinen und

•     zwischen Muslimen im Speziellen.

 

Der Mensch ist aufgefordert, zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung beizutragen. Der Kampf um Gerechtigkeit umfasst alle Bereiche des Lebens, so auch den gesellschaftlichen und politischen Bereich und sollte sich auf alle Ebenen erstrecken, vom täglichen Leben bis hin zu einer globalen Ebene. Deshalb gehören Islam, soziale und politische Aktivitäten zusammen. Soweit das theologisch-philosophische Verständnis der Beziehung zwischen Religion und Politik im Islam.

 

Unterschied Christentum Islam

 

Ein Hauptunterschied zwischen Christentum und Islam besteht sicherlich darin, dass der Islam schon früh zur „Staatsreligion“ wurde. Muhammad (saws) war nicht nur das spirituelle Oberhaupt seiner Gemeinde, sondern auch deren politischer und militärischer Führer. Funktionen, die Jesus als Begründer des Christentums so nie wahrgenommen hat, nie wahrnehmen wollte. Die jungen christlichen Gemeinden, die vom römischen Staat brutal verfolgt wurden, hatten damit ein ganz anderes Verhältnis zu staatlicher Macht. Dies änderte sich natürlich radikal, als das Christentum dreihundert Jahre später  unter Konstantin der Grosse Staatsreligion wurde und die Kirchenväter sich daran machen das theologische Argumentarium dafür zu liefern.

 

Die mangelnde Sorgfalt im Umgang mit Begriffen und die fehlende Offenlegung von Grundannahmen führen dazu, dass die Diskussionen bei diesem Thema so unergiebig  und fruchtlos sind.

 

In diese Falle tappt beispielsweise auch Sheikh Qaradawi, wenn er von einer grundsätzlichen Unverträglichkeit zwischen säkularem Rechtsstaat westlicher Prägung und der Sharia spricht und damit die Argumentationsweise westlicher Sharia-Gegner übernimmt. Seine Argumentation, wieso Säkularismus dem Christentum angepasst sei, dem Islam jedoch nicht, erschöpft sich im Oberflächlichen. Natürlich ist es so, dass die Sharia unverzichtbar zum Islam gehört. Aber was ist die Sharia und was regelt sie – oder eben nicht? Sie regelt eben nicht alles. Ich werde darauf zurückkommen.

 

Der Slogan din wa daula“ wird mit Vorliebe von Vertretern jener politischen Strömungen im modernen Islam im Munde geführt, die man „islamistisch“ nennt, also jener Richtungen des politischen Islam, die der Demokratie westlichen Zuschnitts ablehnend oder gar feindlich gegenüberstehen und einen „islamischen“ Staat fordern, der nicht demokratische, sondern theokratische Züge tragen und die in der prophetischen Sendung Mohammeds geoffenbarte gottgewollte Ordnung auf Erden realisieren soll. Nun ist aber der eingangs zitierte Slogan vor dem 19. Jahrhundert gar nicht zu belegen. Er ist selber ein Produkt der Moderne, und es ist zu fragen, ob er tatsächlich historisch begründet ist und nicht bloß ein Idealbild oder das Postulat einer bestimmten modernen Ideologie darstellt. ([2])

 

Die von Muhammad bis zu seinem Tode geleitete Urgemeinde (umma) von Medina (622-632) war auf der Arabischen Halbinsel etwas Neues: erstmals wurden die in tribaler Zersplitterung lebenden, in endlose Fehden und Blutrachen verstrickten arabischen Stämme einer übergeordneten, auf Gesetz, Recht und Moral gegründeten Zentralgewalt unterworfen, einer politischen Ordnung, zu der auch die Einforderung von Abgaben und eine von der Zentrale betriebenen „Außenpolitik“ gehörten; all dies beinhaltete zumindest Ansätze staatsähnlicher Strukturen, wie es sie bis dahin auf der Arabischen Halbinsel nicht gegeben hatte. Nicht die Stammes- und Blutsbande war für diese Gemeinschaft ausschlaggebend sein, sondern die Verpflichtung auf eine gemeinsame Idee, den Islam.

 

 

Nach dem Tod Muhammads begann dieses Gemeinwesen kriegerisch zu expandieren und – nach dem Modell seiner Nachbarn Byzanz und Persien – imperiale Züge zu entwickeln. Aufgrund dieser Entwicklung, die sich von der Frühgeschichte des Christentums deutlich unterscheidet, war der Islam nicht genötigt, kirchenähnliche Organisationsstrukturen zu entwickeln: Das Gemeinwesen selber war die äussere Form, in der die neue Religion sich manifestierte.

 

 

Mit Muhammads Tod endete sozusagen die göttlich inspirierte Leitung der Gemeinschaft, der Umma.

Die vier ersten Khalifas – Nachfolger Muhammads in der Leitung seiner Gemeinde - waren aus seinem engsten Anhängerkreis durch Konsens bestimmte frühe Weggefährten des Propheten. Sie konnten das durch Muhammad etablierte Recht nicht mehr abrogieren, sondern nur noch interpretieren in Fällen, wo die Praxis Muhammads keine Antwort gab. Aber auch sie unterstanden dem Recht, wie jeder andere Muslim und nicht darüber. Theoretische können sie wie jeder gewöhnliche Muslim auch vor dem Gesetz zur Verantwortung gezogen werden. Sie wurden jedoch auf Lebenszeit gewählt.

Doch schon 661 kam mit dem Statthalter von Syrien, Muawiya, die Familie der Omaiyyaden an die Macht, die sich als Dynastie etablieren konnte. Damit verschob sich der politische Schwerpunkt Medina und von der Arabischen Halbinsel weg nach Damaskus. Von dort aus regierten die Omaiyyaden bis 750 das neue arabische Imperium. Frommen Kritikern erschienen die Omaiyyaden von Damaskus als rein welt­liche Monarchen, als „Könige“, wie man etwas verächtlich sagte, obwohl auch sie selbst­ver­ständlich den Kalifentitel führten. Ihre mit Mosaiken, Wandgemälden und Statuen üppig ausgestatteten Schlösser, ihre Jagden und Gelage und die an ihren Höfen gepfleg­te, Wein, Weib und Gesang feiernde Poesie erregten den Unwillen der Frommen. ([3])

Es gab im übrigen auch Zeiten mit mehreren Khalifen gleichzeitig in Baghdad (Abbasiden), Cordoba (Omaiyyaden) und Kairo (Fatimiden).

 

 

Der Streit um die rechtmässige Herrschaft begann allerdings schon bevor Muawiya an die Macht kam. Schon der vierte Khalifa, Hz. Ali, wurde von einer Oppositionsgruppe, den Kharijiten, herausgefordert und schliesslich ermordet, die sehr radikale und puritanische Ansichten vertraten hinsichtlich der Frage, wer ein echter Muslim sei, was der wahre Islam und der ideale Herrscher sei. Gemäss kharijitischer Lehre gebührt die Nachfolge des Propheten nur dem besten und würdigsten Muslim, der durch die Gläubigen zu wählen ist und falls er den Ansprüchen nicht genügt, auch wieder abgesetzt werden sollte. Auf der anderen Seite des Spektrums finden wir die Shiiten, welche die Meinung vertraten, dass die Nachfolge nur den leiblichen Nachkommen des Propheten zukäme, also einem dynastischen Prinzip anhingen.

 

Nach dem Sturz der Omaiyyaden durch die Abbasiden (nach Ibn Abbas, einem Onkel Muhammads), verschob sich das Zentrum des islamischen Reiches erneut, und zwar von Damaskus nach Baghdad. Durch Beamte persischer Herkunft fand nun altiranisches Staatsdenken Eingang in den Islam und altorientalische Vorstellungen vom Königtum färbten auf die Khalifen von Bagdad ab. Im 10. Jahrhundert nahmen die iranischen Oberbefehlshaber der Khalifen sogar den über ein Jahrtausend alten persischen Titel eines Großkönigs, eines „Königs der Könige“ (shah-an shah) an. ([4])

 

Ein weiteres fremdes Element gelangte mit den aus Zentralasien einwandernden Turkvölkern unter der Dynastie der Seljuken in das islamische Reich. Die Seljuken nahmen 1055 Baghdad ein und machten den Khalifa zur einer blossen Galionsfigur. Als rein weltliche Herrscher, die keinerlei religiöses Prestige für sich geltend machen wollten und konnten, führten ihre Herrscher den Titel Sultan (eigentlich: Herrschaft). 200 Jahre später eroberten die Mongolen Baghdad und machten dem Khalifat ein vorläufiges Ende. Das Gesetz Dschingis Khans, die Jasa – eine gänzlich unislamische Rechtsordnung – machte nun ihren Einfluss geltend. Ab dem Jahr 1501 schob sich zudem das shiitische Safawiden-Reich in Persien zwischen das im Westen aufsteigende sunnitische Reich der türkischen Osmanen und das Reich des Grossmoghuln in Indien.

 

Eine spezifisch islamische Herrschafts- oder Staatsform gibt es also nicht. Entgegen der Ansicht gewisser religiös-politischer Ideologen lässt sich aus den primären Quellen Qur’an und Hadith kein „islamisches“ Herrschaftsprinzip ableiten. Auch die Regierungsform spielt keine Rolle, solange das Wohlergehen der Gemeinschaft im Zentrum steht und die Vorgaben der Sharia beachtet werden. Die Konzepte, die sich aus diesen Quellen ableiten lassen, zielen auf Formierung einer idealen islamischen Gemeinschaft, eben die Umma, nicht auf einen islamischen Staat.  Das aus den historischen Umständen erwachsene Khalifat ist verschwunden, ohne eine grosse Lücke zu hinterlassen. Den Nachfolgereichen war stets gemeinsam, dass ihre Herrscher Muslime waren – von einigen Mongolen abgesehen – und dass der Islam die herrschende Religion blieb. Die Shari’a, die religiös fundierte islamische Rechtsordnung, deren juristische Grundlagen im 8. und 9. Jahrhundert durch Privatgelehrte entwickelt worden waren, dominierte selbstverständlich; aber sie war keineswegs für alle Lebensbereiche zuständig.

 

So bezog etwa der islamische Staat seine Einkünfte nicht nur aus Steuern, die von der Shari‘a für erlaubt erklärt waren: die Kopfsteuer der Nichtmuslime, die Armensteuer der Muslime und die Erntesteuer vom bebauten Boden, denn deren Erträge reichten für die Bedürfnisse des Staates schon bald nicht mehr aus. Das islamische Ägypten, das seit der Gründung Kairos 969 zur Großmacht im östlichen Mittelmeer aufstieg, bezog den weitaus größten Teil seiner Einnahmen vielmehr aus den religiös unzulässigen Durchgangs- und Binnenzöllen, die auf den Warenverkehr zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer erhoben wurden. Religiöse Bedenken konnten gegen diese Praxis ebenso wenig ausrichten wie heutzutage solche gegen das Zinswesen der Banken; bekanntlich verbietet der Qur’an das Zinsnehmen. Auch das seit dem 10. Jahrhundert aufgekommene Militärlehen, das in der Gesellschaft und der Ökonomie der nahöstlichen Länder bis in die Neuzeit eine bedeutende Rolle spielte, wird von der Shari‘a einfach ignoriert. Es erschien zu spät, um in die theoretischen Überlegungen der frommen Juristen einbezogen zu werden. Ein weiteres, gewissermaßen Shari‘a -freies Feld ist die Politik. ([5])

 

Dem islamischen Herrscher wird für die Ausübung seiner Pflichten ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt, in dem er schalten und walten kann, wie es ihm für das Wohl des Gemeinwesens angemessen erscheint; die Shari‘a macht ihm da so wenig Vorschriften wie sie dem Schuhmacher vorschreibt, wie er sein Handwerk ausüben soll (dass der Herrscher als Muslim Gott verantwortlich bleibt wie jeder andere Muslim und nicht über der Sharia steht, versteht sich von selbst).

Diesen Freiraum haben die muslimischen Herrscher stets weidlich genutzt. Ihre Erlasse und Dekrete, Richtlinien und Gesetze unterscheiden sich also nicht grundsätzlich von denen europäischer Herrscher. Man nannte sie nur nicht „Gesetze“, denn theoretisch ist Gott der alleinige Gesetzgeber und Souverän. Also nannte man sie „Richtlinien“, canones (arabisch qanun). Der osmanische Sultan Süleyman der Prächtige (1520-1566) hat denn auch wegen seiner Gesetzeskodifikation den arab. Beinamen Qanuni. Schon sein Vorgänger Mehmed II. (1444-1446), der Eroberer Konstantinopels, hatte auf diese Weise das Strafrecht geregelt, das in der Shari‘a nur ansatzweise entwickelt ist. Süleyman fügte in seinen Gesetzen umfangreiche Bestimmungen zum Boden-, Finanz- und Fiskalrecht hinzu. Die Osmanen-Sultane verfuhren also in ihrer Gesetzgebertätigkeit wie säkulare Herrscher, auch wenn die religiöse Theorie das nicht wahrhaben wollte.

 

Wir sollten überhaupt vermeiden, die Theorien der islamischen Religions-gelehrten, der Ulama, mit der historischen Wirklichkeit zu verwechseln. Ebenso wie man vermeiden sollte, die Theorien des Säkularismus mit der historischen Wirklichkeit in Europa und generell in der westlichen Welt zu verwechseln.

 

Die Säkularisierung des Staates hat auch in der Geschichte der islamischen Völker selbst weit zurückreichende Wurzeln, auch wenn die modernen islamistischen Ideologien dies vehement bestreiten. Der 1966 in Kairo hingerichtete Sayyid Qutb, einer der Väter des modernen Islamismus, hat das, wenn auch widerstrebend, dadurch anerkannt, dass er alle politische Herrschaft seit der Machtübernahme der Omaiyyaden im Jahre 660 für unislamisch, ja für heidnisch erklärte, was einer radikalen Verwerfung von fast 1400 Jahren einer reichen islamischen Geschichte gleichkommt. Selbst die Islamische Revolution in Iran hat formal eine republikanische Staatsform mit Präsident und Parlament geschaffen.

 

Die islamistischen Bewegungen, die seit den 70er Jahren in den meisten islamischen Ländern erstarkt sind, sind nicht ein Ausdruck fehlender Säkularisierung, sondern eine Reaktion auf diesen Säkularisierungsprozess, den sie mit allen Mittel stoppen und rückgängig zu machen suchen, weil er den Menschen ausser einer Entfremdung von ihren eigenen Wurzeln und Kultur nichts gebracht hat. Durch die extreme, puritanische und einseitige Interpretation des Islam wird jedoch nicht die offene, pluralistische Gemeinschaft aus der „Goldenen Zeit des Islam“ zur Zeit Muhammads wieder auferstehen, sondern ein unflexibles System mit totalitären Zügen.

 

Der Slogan „Der Islam ist Religion und Staat“ ist bestenfalls eine Vision respektive ein  ideologisches Postulat, aber sicherlich keine Beschreibung der historischen Wirklichkeit.

 

Das Prinzip der Einheit von Religion und Staat hat nur insofern seine Richtigkeit, als man im Islam nie von zwei komplett voneinander getrennten Sphären ausgegangen ist, sondern immer von einer Wechselwirkung zwischen Religion und Staat respektive weltlicher Herrschaft. So gesehen besteht zwar zwischen dem islamischen „Din wa daula“ und dem christlichen „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ ein formaler Gegensatz. In Tat und Wahrheit war es aber genau umgekehrt: Die christlichen Staaten waren bis zur Säkularisierung im 18. Jahrhundert von einer Einheit von Kirche und Staat geprägt. In Europa tobten ausgelöst durch die Reformation jahrhundertelang Religionskriege zwischen Protestanten und Katholiken in deren Verlauf – hauptsächlich auch während des 30jährigen Krieges – ein Drittel der Bevölkerung Europas eines gewaltsamen Todes starb.

 

Erst 1648 konnte im Westfälischen Frieden diesem Blutvergiessen Einhalt geboten werden. Es galt fortan der Grundsatz: Cuius regio, eius religio, was bedeutete, dass der jeweilige Herrscher über die Religion seiner Untertanen bestimmte. Andersgläubige mussten das Land in der Regel verlassen. Im Gegensatz betrachtete man in der islamischen Welt die nichtmuslimischen Minderheiten als natürlicher Bestandteil der Bevölkerung und es war Pflicht des islamischen Staates die Rechte der religiösen Minderheiten zu schützen. Sie konnten ihre inneren Angelegenheiten weitgehend selbständig und nach ihren eigenen Gesetzen regeln und ihre Religion frei ausüben.

 

Andererseits waren sie verpflichtet, die Jizya (Kopfsteuer) zu zahlen und dem Staat gegenüber loyal zu sein. Es galt also das Prinzip Cuius religio, eius lex. Selbstverständlich bildeten damals wie heute Rechtsstreitigkeiten, welche mehrere Rechtstraditionen tangierten eine grosse Herausforderung für die Rechtsgelehrten und Richter. Das ist beim heutigen Internationalen Privatrecht nicht anders.

 

Wie wir oben gesehen haben, waren die nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und später nach dem Ende der Kolonialisierung hervorgegangenen Staaten der islamischen Welt alles mehr oder weniger säkulare Staaten.

Die Bevölkerung dieser Staaten und damit auch viele muslimischen Einwanderer haben den säkularen Staat jedoch oft nur als Repressionsstaat erlebt, welcher die Religionsfreiheit eingeschränkte, wenn nicht gar unterdrückte. Säkularismus wurde in der islamischen Welt nicht in erster Linie als Befreiung von der Bevormundung kirchlicher Institutionen erlebt, sondern als Mitbringsel der Kolonialmächte, die weniger das Muster einer friedliebenden Zivilisation abgaben als vielmehr Mächte waren, die Fremdherrschaft und Unterdrückung verkörperten. Kurz: Die als Kolonisatoren auftraten, die im Umgang mit den Kolonialisierten ihre eigenen Werte desavouierten. Der heutige Fundamentalismus in Teilen der islamischen Welt ist deshalb nicht als “Anti-Aufklärung“ oder “Anti-Modernismus“ zu verstehen, wie dies verschiedentlich dargestellt wird, sondern eher die Folge von nicht eingelösten Versprechungen der Moderne.

 

Religion als Basis moralischer Werte

 

Moderne Denker, wie der 1988 verstorbene pakistanische Gelehrte Fazlur Rahman, zuletzt Professor für „Islamic Thought“ an der University of Chicago, wiederum hatten ein differenziertes Verständnis von Säkularismus. Rahman war der Meinung, dass Säkularismus ein Fluch der Moderne sei, da er die Heiligkeit und Universalität jeglicher moralischer Werte zerstöre – ein Phänomen, dessen Auswirkungen eben erst begonnen hätten, sich in den Gesellschaften der westlichen Welt bemerkbar zu machen. Was die Etablierung einer sozialen Ordnung auf ethischer Basis angehe – und dies hält Rahman für das Erstrebens- und Wünschenswerteste für die heutige Menschheit – sind für ihn die Auswirkungen von islamischem mittelalterlichen Sufismus, christlicher Fixierung auf Theologie oder von modernem Säkularismus vergleichbar. Der Qur'an und das tiefe Gottesbewusstsein des Propheten hingegen strebten eine ethische sozio-politische Ordnung an, weil nach dem Qur'an diejenigen, die Gott vergessen, letztlich sich selbst vergessen, wodurch ihre persönliche und gemeinschaftliche Identität sich auflöst. Mit ethischer sozio-politischer Ordnung, gestützt auf Gott, sei gemeint, dass moralische Prinzipien und Werte eben nicht vom Menschen gemacht und aufgehoben werden können – je nach Lust und Laune, Gutdünken oder Bequemlichkeit und um des momentanem Vorteils willen; und sie dürften auch nicht der Zweckmäßigkeit wegen missbraucht werden.

Er schliesst damit an den mittelalterlichen Rechtsgelehrte al-Shātibi (gestorben 1388) an, welcher der Meinung, dass reine Vernunft, losgelöst von den Prinzipien der Shari’a, unfähig sei, religiös-moralische Werte zu schaffen. Ganz ähnlich wie der deutsche Rechtsphilosoph und Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde, der Mitte der 1960er Jahre die Frage stellte, ob der freiheitliche, säkularisierte Staat nicht von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann.  

 

Vernunft, Demokratie und religiöse Weltsicht

 

Aufgrund der Tatsache, dass sich aus dem Qur’an keine konkrete Herrschaftstheorie ableiten lässt, obliegt es gemäss dem 1936 geborenen iranischen Geistlichen Mohammad Mojtahed Shabestari der menschlichen Vernunft, den Begriff der gerechten Herrschaft wie auch der Gerechtigkeit überhaupt immer wieder neu zu deuten.

 

Ähnlich argumentiert der 1945 geborene und in Teheran lebende Intellektuelle Abdolkarim Sorush. Er postuliert den Entwurf einer „religiösen Demokratie“, in welchem er demokratische Ordnungsvorstellungen mit einer religiösen Weltsicht vereinbart. Anders als viele muslimische Demokratiebefürworter leitet Sorush das Konzept der Demokratie nicht aus qur’anischen Konzepten, wie z.B. dasjenige der Shura , ab. Diese Herleitung wird von vielen muslimischen Befürwortern bemüht, um damit eine Verankerung der Demokratie bereits in frühislamischer Zeit zu belegen. Für ihn ist Demokratie eine Frucht der menschlichen Vernunft und gründet auf Vernunftbegriffen, wie dem der Gerechtigkeit.

 

Sorush macht aber einen Unterschied zwischen einer liberalen Demokratie und einer religiösen. Denn während die Freiheit in der liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts vor allem in Bezug auf weltliche Interessen und Neigungen gewahrt werde, sei das Ziel der religiösen Demokratie nicht zuletzt die Religion. Jedem Bürger soll dadurch die Freiheit und die Möglichkeit gegeben werden, sich seiner Religion zu widmen und nach deren moralischen Geboten zu leben, aber ohne, dass sie ihm quasi per Gesetz aufgezwungen werde. Der Staat darf dem Bürger nicht vorschreiben, religiös zu sein, aber er muss die freie Religionsausübung gewährleisten.

 

Schweiz

 

Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Rechtstheorie und historischer Wirklichkeit wie oben ausgeführt, finden wir auch in der schweizerischen Rechtsordnung. Zwar ist gemäss Bundesverfassung der Staat zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, müsste also die verschiedenen Religionen gleich behandeln. In der Praxis ist es aber so, dass die öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen immer von Sonderregelungen profitierten und immer noch profitieren. Von gleich langen Spiessen für alle Religionen kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Der von den Muslimen geforderte Rückzug der Religion in den privaten Bereich kann aber nur eine Forderung sein, wenn eine Religion öffentlich und rechtlich anerkannt ist und ihre Rolle in der Gesellschaft definiert ist.

 

Rifa’at Lenzin / 23.01.2008



[1] Wikipedia

[2] Heinz Halm, „Islamisches Rechts- und Staatsverständnis

[3] Heinz Halm, a.a.O.

[4] Heinz Halm, a.a.O.

[5] Heinz Halm, a.a.O.